Verstehen in Alltag und Wissenschaft

Bücher (M. Elbe)
Bücher (M. Elbe)

Im Alltag ist das Verstehen eigentlich unproblematisch – solang wir uns verstehen und davon gehen wir aus (Köhler, 2004). Damit sind einerseits das Selbstverstehen, als Wissen um unsere Einstellungen, Wünsche, Werte, unsere Gefühle und Motive und andererseits das Fremdverstehen, als Vorstellung davon, was Andere meinen oder empfinden, angesprochen. Grundsätzlich sind wir in der Lage, uns in andere hineinzuversetzen und auf dieser Grundlage den Anderen in seinen Empfindungen und seinem Handeln zu verstehen. Dieses empathische Verstehen ist weitreichend und kann auch große räumliche oder zeitliche Distanzen überwinden. Weber (1985, S. 428) gibt uns ein Beispiel: „Man […] muss nicht Caesar sein, um Caesar zu verstehen.“ Das Problem ist allerdings, das hieraus keine Interaktion entsteht, denn Caesar kann uns nicht (mehr) verstehen. Das Verstehen im Alltag hat damit zwei grundsätzliche Dimensionen: Selbst- vs. Fremdverstehen und Empathie vs. Kommunikation. Von besonderem Interesse ist das zwischenmenschliche Verstehen dann, wenn hieraus eine Interaktion entsteht oder anders formuliert, wenn Menschen miteinander kommunizieren. Verstehen ist dann die Rekonstruktion des Gemeinten. Das Verstehen im Rahmen von Kommunikationsprozessen lässt sich folgendermaßen skizzieren (Elbe, 2015, S. 7):

Verstehen im Kommunikationsprozess (Elbe, 2015)

 

Hier zeigt sich, dass an den Kommunikationsprozess unterschiedliche Verstehensvorgänge geknüpft sind, die zwischen Selbst- und Fremdverstehen alternieren. In Ergänzung des bekannten Sender-Empfänger-Modells von Shannon und Weaver (Röhner & Schütz, 2012) werden die Stellen der Codierung und Decodierung als Ansatzpunkte für das Selbst- und Fremdverstehen eingeführt. Da es keinerlei Evidenz dafür gibt, dass Selbstverstehen vor Fremdverstehen ginge,[1] können Störungen im Verstehensprozess an allen vier Stellen verursacht werden. Die grundlegende Annahme, dass sich das Individuum selbst versteht, wird mit dem Fortschreiten der Moderne immer prekärer, da die Entfremdung im Alltag, die alltägliche Ungewissheit zunimmt. Je weniger Selbstverständlichkeit unhinterfragt unseren Alltag, unsere gesellschaftliche Position und unsere Identität bestimmen, desto größer wird das Bedürfnis der Einzelnen und auch von Organisationen Hilfestellung bei der Interpretation von alltäglicher Kommunikation zu erhalten.

In der Philosophie reicht die Diskussion um die Möglichkeit des Verstehens bis in die Antike zurück. Im Zuge der Ausdifferenzierung der Wissenschaften wurden insbesondere in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften (z. B. Soziologie und Pädagogik), aber auch in Psychologie und Medizin Ansätze des Verstehens entwickelt. Es gibt hierzu zahlreiche Einführungs- und Überblickswerke (aus der Philosophie z. B. Apel, Manninen & Tuomela 1978, Figal 1996, Jauß 1994, Simon 1995, Wright 1991; aus der Psychologie z. B. Gröben 1986, Katzenbach 1992, Köhler 2004, Lorenzer 2005; aus der Soziologie z. B. Bühl 1972, Elbe 2002, Greshoff, Kneer & Schneider 2008, Helle 1999, Richter 1995, Schütz 1974, Weber 1980 – diese Liste ist eine Auswahl, in der nicht nur einzelne wichtige Autoren fehlen, sondern sogar ganze Disziplinen). Elbe (2002) skizziert die Entwicklungsgeschichte des Verstehens und formuliert 15 Sätzen, die als Anforderung an eine verstehende Epistemologie zu sehen sind:

  1. Im Transzendenten sind Wesen und Idee ein und dasselbe.
  2. Wesen und Idee begrenzen die Möglichkeit des Seins (Form) in der Wirklichkeit (Inhalt).
  3. Der Einzelne konstruiert seine Wirklichkeit auf der Basis der transzendentalen Möglichkeit - und diese ist sozial gegeben.
  4. Soziale Tatsachen können wir verstehen, deren teleologische Grundlage, die Idee, hingegen nur begreifen.
  5. Das Transzendente zeigt sich im Bewusstsein und ist historisch bedingt.
  6. Das Verstehen wird symbolisch vermittelt, orientiert an der transzendenten Idee.
  7. Erfolg ist ein teleologisch-handlungsorientiertes Kriterium für intersubjektive Wirklichkeitskonstruktionen.
  8. Die Handlung ist der Erfolgstest einer vermuteten intersubjektiven Wirklichkeits­konstruktion. Missverstehen als Absurdität heißt die Ent-Täuschung dieser Vermutung.
  9. Die Erkenntnis des Phänomens als reiner Bewusstseinsakt ist lebensweltlich gebunden.
  10. Der Verstehensakt hat zirkulären Charakter, Vorwissen und Erkenntnis bedingen einander in jedem Schritt des Verstehens aufs Neue.
  11. Im Verstehen fallen Handlung und Sprache, Institution und Sprachspiel zusammen. Diese verstehen heißt aber, ihre Bedeutung, ihr Wesen aus sich heraus zu begreifen.
  12. Im verstehenden Zirkel erwirbt der Mensch empathisch die Reziprozität der Perspektiven, welche ihm die Teilnahme am Sprachspiel, an der Institution ermöglicht.
  13. Das Sprachspiel der Textinterpretation heißt Hermeneutik, ihr entzieht sich die Empathie.
  14. Verstehen heißt die Regeln des Sprachspiels anzunehmen, Erklären heißt diese Regeln zu explizieren (auszusprechen).
  15. Hermeneutik ist die Methode, lebensweltliches Verstehen in wissenschaftliches Erklären zu überführen.

In Bezug auf das Verstehen in und von Organisationen werden diese Anforderungen im folgenden Auszug aus dem Buche „Wissen und Methode: Grundlagen der verstehenden Organisationswissenschaft“ (Elbe, 2002, S. 191ff) erläutert.

Der Kern einer verstehenden Methodologie findet sich in der Konstruktion systematischer Verstehensgrundlagen, insbesondere in Typenbildungen im Sinne Max Webers (1980), die eine Interpretation von menschlichem Handeln in Organisationen ermöglicht (Elbe, 2002). Interpretation ist demnach in drei Formen möglich, einmal in der Erfassung des im Einzelfall Gemeinten, zum anderen in der Erarbeitung des näherungsweise (durchschnittlich) Gemeinten und zum dritten in der Konstruktion von Idealtypen. Sehen wir uns den Zweck der Konstruktion von Idealtypen genauer an: Als reiner Begriff kann der Idealtyp in der Diagnose zur Kategorisierung dienen, er hilft Sinnzusammenhänge zu erfassen. Dabei ist zu beachten, dass Weber (1980) mit Idealtyp nicht etwas sein-sollendes meint, sondern die radikalst vorstellbare Ausprägung. Wenn es gelingt, die gedanklich-idealtypische Form bloß zu legen, kann darauf bezogen nach den typischen Sinnzusammenhängen des Mitarbeiter- oder Führungshandelns in Organisationen gefragt werden und es wird möglich, hiervon abweichendes Verhalten in der Realität in seiner kausalen und teleologischen Verursachung zu interpretieren, also zu verstehen. Letztlich handelt es sich bei Idealtypen um Vorstellungen, die als Hypothesen im Verstehensprozess wirken, also um Gedankenexperimente, die in der Organisationsdiagnose jeweils Startpunkte im diagnostischen Zirkel markieren. Die erkenntnistheoretische Position des Verstehens lässt durchaus sowohl quantitative als auch qualitative Verfahren zu, was vom Einsatz von Fragebögen (z. B. im Rahmen von Mitarbeiterbefragungen) bis zur Führung von Interviews (z. B. auf der Führungsebene) und zur Beobachtung (z. B. kommunikativer Prozesse) reicht (Elbe, 2015).

Einen ersten Entwurf zur Entwicklung eines umfassenden Verstehens-Fragebogen, der die gesamte Breite des Verstehens im Alltag zu erfassen vermag - und sich dabei eines wissenschaftlich-verstehenden Vorgehens (mit Hilfe des Idealtypenvergleichs) bedient - wird hiermit vorgelegt (Elbe, 2016). Die Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen, aber ein Arbeitsinstrument liegt somit schon mal vor.

Literatur:

Apel, K.-O., Manninen, J. & Tuomela, R. (1978) (Hrsg.): Neue Versuche über Erklären und Verstehen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Bühl, W. (1972): Verstehende Soziologie. Grundzüge und Tendenzen. München: Nymphenburger.

Elbe, M. (2002): Wissen und Methode. Grundlagen einer verstehenden Organisationswissenschaft. Opladen: Springer VS (Leske + Budrich).

Elbe, M. (2015): Organisationsdiagnose: Methoden · Fallstudien · Reflexionen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Elbe, M. (2016): Der EBVFB (Elbe-Beyer-Verstehensfragebogen): Hin­ter­grund und Konstruktion. Projektbericht an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft. Fachbereich Wirtschaftspsychologie. Berlin.

Figal, G. (1996): Der Sinn des Verstehens. Beiträge zur hermeneutischen Philosophie. Stuttgart: Reclam.

Greshoff, R., Kneer, G. & Schneider, W. (2008) (Hrsg.): Verstehen und Erklären. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. München: Fink.

Groeben, N. (1986): Handeln, Tun und Verhalten als Einheit einer verstehend-erklärenden Psychologie. Tübingen: Francke.

Helle, H. (1999): Verstehende Soziologie. München: Oldenbourg.

Jauß, H. R. (1994): Wege des Verstehens. München: Fink.

Katzenbach, D. (1992): Die soziale Konstitution der Vernunft. Erklären, Verstehen und Verständigung bei Piaget, Freud und Habermas. Heidelberg: Asanger.

Kleist, H. v. (1805): Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. http://www.amazon.de/%C3%9Cber-allm%C3%A4hliche-Verfertigung-Gedanken-Reden-ebook/dp/B004SYA48W#reader_B004SYA48W vom 08.12.2014.

Köhler, W. (2004): Personenverstehen. Zur Hermeneutik der Individualität. Frankfurt a. M. etc.: Ontos.

Lorenzer, A. (2005): Szenisches Verstehen. Zur Erkenntnis des Unbewussten. Marburg: Tectum.

Richter, R. (1995): Grundlagen der Verstehenden Soziologie. Soziologische Theorien zur interpretativen Sozialforschung. Wien: WUV.

Röhner, J. & Schütz, A. (2012): Psychologie der Kommunikation. Basiswissen Psychologie. Wiesbaden: Springer.

Schütz, A. (1974): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Simon, J. (1995) (Hrsg.): Distanz im Verstehen. Zeichen und Interpretation II. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Weber, M. (1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr Siebeck.

Weber, M. (1985): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr.

Wright, G. H. v. (1991): Erklären und Verstehen. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Hain.

(Autor: Martin Elbe, 2014-2016)

 

[1] Dies wurde seit Kleists (1805) scharfsinniger Analyse „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ in unterschiedlichen Varianten vielfach analysiert, bis hin zum Bonmot „Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich gehört habe, was ich sage?“

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